(Dieses Foto wurde viele Jahre später ein gutes Stück wolgaaufwärts in Samara geknipst. In Wolgograd war ich ohne Fotoapparat)
(aus einem Brief)
Neujahr hab ich dieses Jahr zweimal hintereinander gefeiert; und zwar zuerst nach Wolgograder Zeit, und eine Stunde später dann nochmal nach Moskauer Zeit. In kleinem Kreis, bei Freunden; entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten: vorm Fernseher. Zuerst lief der Wolgograder Sender; und als dort Neujahr durch war schalteten wir um auf den Moskauer und harrten dem nächsten Jahreswechsel.
Diese Neujahrsfete am Fernseher war nicht einmal so uninteressant. Im Gegensatz zu den westlichen Neujahrsprogrammen war da kaum ausgearbeitete Gekünsteltheit (trotz offensichtlichen Bemühens, selbige nachzuahmen). Die Conferenciers wandten sich, halb im Scherz, halb im Ernst, an die "ehemaligen Genossen" und die "ehemaligen Bürger der Sowjetunion"; und keinerlei Versuch, die Probleme hinter irgendwelcher glänzender Fassade zum Verschwinden zu bringen; sie wurden angesprochen; und es schwang - nicht gekünstelt, sondern echt - die Zuversicht mit, daß, wie ernst auch immer die Lage sei, man schon irgendwie damit fertig werde. Eine erfrischende Offenheit und Ehrlichkeit, wie sie auch hier am Fernsehen immer seltener wird. Aber zu Neujahr lebte sie nochmal auf... - Die Show-Einlagen waren von wohltuender unfreiwilliger Komik; da paßte überhaupt nichts zusammen. Ein langhaariger, etwas fülliger junger Mensch, den man sich seinem Auftreten nach als Verkehrspolizist oder als Platzanweiser im Kino vorstellen könnte, sang in einer sehr schwülstigen Melodie ein Lied mit sehr sachlichem Text über Liebe, Schicksal und Abschied; und was es sonst in der Richtung noch so gibt; und unterstützt wurde diese Sachlichkeit durch seine Bewegungen, die, wie gesagt, an die eines Verkehrspolizisten oder eines Platzanweisers erinnerten. Bei fachmännischer Ausarbeitung von Text, Musik und Vortrag in der unfreiwillig eingeschlagenen Richtung käme ein ausgezeichnetes Groteskical zustande. - All dies in wohltuendem Kontrast zu den zum Glück noch nicht erreichten westlichen Vorbildern, wo in ausgeklügeltem professionellem Raffinesse ein glattes Gespinst aus Dummheit gewoben wird, das auch nicht den geringsten Durchschlupf zum Menschlichen mehr frei läßt.
Die Neujahrsnacht verbrachte ich im Stadtzentrum von Wolgograd; wohnen tat ich so ca. eine Straßenbahnstunde im Süden der Stadt. Man fährt an kleinen Siedlungen aus bunten, zum Teil windschiefen Holzhäusern vorbei; überall Steppengras... Diese Strecke fuhr ich auch am Neujahrsmorgen. Irgendwo stieg eine Gruppe angetrunkener junger Leute zu. Die begannen nun aber nicht etwa zu randalieren, sondern sangen - sogar recht diszipliniert - im Chor alte Volkslieder; und zwischendurch wünschten sie ein frohes neues Jahr und fragten, warum wir alle so ernst sind. - Insgesamt ist die Stimmung in dieser Gegend besser als in Moskau. Auch die Strassen sind nachts wesentlich sicherer; möglicherweise sogar sicherer als Dortmund... - Apropos Randalieren: Einmal hörte ich in der Moskauer Metro ein vielstimmiges Gegröle. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, daß ich das in Rußland zum ersten mal höre und daß den Russen diese Art von Zusammenrottungen fremd zu sein scheint; und wie ich näher hinhörte merkte ich denn auch, daß da in deutsch gegrölt wurde...